Katrin von Lehmann

Proxy 21

Die Serie Proxy 21 gehört zu meinem seit 2015 entstehenden Projekt Leerstelle des Unbekannten/Nichts stimmt mehr. In jenem Jahr hatte ich eine Radiosendung mit dem Titel „Die Abschaffung der Gene“ gehört. Das Thema Genetik war mir durch mein Projekt Vor Haupt Nachspeise (2012–2016) am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin vertraut. Der aufsehenerregende Titel der Radiosendung machte mich auf das Ergebnis des internationalen Humangenomprojekts von 2003 aufmerksam. Es wurde berichtet, dass dieses Ergebnis wie ein Schock in die Wissenschaftscommunity eingeschlagen habe. Denn die Forschungsresultate machten es erforderlich, nach neuen Zusammenhängen zu suchen, da der fast schon als wahr angenommene Wissensstand – dass die Gene für den Vererbungsprozess hauptverantwortlich seien – sich als falsch erwiesen hatte. Einige Wissenschaftler:innen sprachen sich deshalb für die „Abschaffung der Gene“ aus.

Diese Situation, nach neuen Zusammenhängen suchen zu müssen, obwohl das Feld schon gründlich erforscht worden war, habe ich auf meine künstlerische Forschung zur Zeichnung übertragen. Ich wollte das Feld der Zeichnung noch einmal neu aufrollen. Meine Versuchsanordnung: Ich lege eine zeichnerische Vorgehensweise wie bei einem Regelwerk fest, mit der ich über einen längeren Zeitraum arbeite, und schaue, wohin mich das führt. Kann das wiederholende Tun in einem von mir abgesteckten Rahmen etwas Neues/Anderes hervorbringen? Alle Serien tragen den Titel Proxy (englisch für Stellvertreter) mit fortlaufender Nummer.

 

Proxy-Zeichen-Technik (PZT): Mit je einem Stift in der linken und rechten Hand schnelle, dynamische Linien ziehen. Alle Stifte aus der Buntstiftkiste benutzen, bis ein dichtes Liniennetz entsteht. Die rechte Hand bewegt sich auf der rechten, die linke Hand auf der linken Papierhälfte. Das Regelwerk ist so offen formuliert, dass ich spontanen Ideen oder Impulsen nachgehen kann.

 

Verschiedene Arbeitsphasen der Proxy-Serien von 2015 bis 2022:

In Anlehnung an die faszinierende Vorstellung der Genetik, dass in den Basenpaaren Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin alle Informationen für jegliches zukünftig entstehende Lebewesen enthalten sind, habe ich in der ersten Serie, Proxy 1, in der PZT auf großformatigen Papieren die Buchstaben A, G, C und T gezeichnet.

Im wiederholenden Tun/Zeichnen entwickelten sich meine Assoziationen weiter zu Zellen, Molekülen als kleinsten Lebenseinheiten, und ich zeichnete fortan runde Formen.

In einer weiteren Arbeitsphase wurde ich auf die physische Umgebung beim Zeichnen aufmerksam. Welchen Einfluss hat deren Beschaffenheit auf die PZT, wenn ich den Zeichentisch verlasse? Muss ich die PZT durch die Einbeziehung der Umgebung ändern? Die Serie Proxy 21 gehört zu den ersten Serien dieser Art. Sie ist 2019 während eines Aufenthaltsstipendiums am Science Art Philosophy-Lab in Lissabon entstanden. Da mich die unterschiedliche Beschaffenheit der glatten und unebenen Atelierwände interessierte, habe ich in der PZT auf Papieren gezeichnet, die ich auf diese Stellen montiert hatte. Die Papiere habe ich während des Zeichnens mehrmals gedreht.

Zurzeit bin ich assoziiertes Mitglied der Young Academy for Sustainability Research am Freiburg Institute for Advanced Studies. Die Beschäftigung mit dem Thema Nachhaltigkeit hat mich bewogen, ohne Papier direkt auf die Wand in der PZT zu zeichnen.

 

Katrin von Lehmann, Januar 2023

www.vonlehmann.com

 

Epigenese und Morphogenese und Katrin von Lehmanns Proxy-Zeichnungen seit 2015

Hanne Loreck

Ein (natur-)wissenschaftliches Experiment lässt sich auf mindestens zwei Weisen beobachten. Einmal steht die Kontrolle des Ablaufs hin zum Eintreffen des vorangenommenen Ergebnisses im Vordergrund, das andere Mal lenken die Beobachter:innen alle Aufmerksamkeit auf den Ablauf selbst. Die Bestätigung der Hypothese bildet den einen Pol, die Abweichungen im „Normalverlauf“ zu registrieren den anderen. Solche Unregelmäßigkeiten sind es, die zieloffen und entgegen jeder wissenschaftlichen Forderung von Wiederholbarkeit eines Experiments Neues und Unbekanntes denkbar werden lassen: Als Pfad – oder auch Methode begriffen, heißt Methode / méthodos doch „Weg zu etwas hin“ – zweigen sie aus dem Geplanten ab und führen in, im Wortsinn, Unvorhergesehenes.

Leerstelle des Unbekannten/Nichts stimmt mehr (seit 2015) zählt zur zweiten Gruppe, wenn Katrin von Lehmann das Setting einer (natur-)wissenschaftlichen Versuchsanordnung auf ihre künstlerische Praxis überträgt. Die Künstlerin eignet sich also den allgemeinen Referenzrahmen für die Erforschung bestimmter (wissenschaftlich brisanter, aktueller) Phänomene an, um dann zweierlei zu erwirken: Mittels der Eckdaten für eine solche Untersuchung stellt sie eine neue, eigene Wirklichkeit her. Diese „neue“ Wirklichkeit manifestiert sich als ein Kunstwerk, sie „ist“ ein autonomes ästhetisches Objekt. Die Wirklichkeit des Ästhetischen bleibt aber zugleich eine visuelle und methodische Verweisstruktur, in der die Übertragung des Experimentalsystems auf eine künstlerische Produktion etwas über wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung an sich sagt. Thematisch gelten die ästhetischen Analogien dem komplexen molekularbiologischen Feld mit seiner Erforschung der Struktur-, Funktions- und Ausdrucksweise des Gens.

Textauszug aus dem Buch: Katrin von Lehmann, textura performativa 5, 2021 (im Museumsshop erhältlich)